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THEATER UND VIDEO

DER DRAMATURG Heft 1/2004

OPERATING INSTRUCTIONS
Die Frage nach der Berechtigung von Video auf dem Theater hat die Praxis beantwortet; sein Einsatz ist längst nicht mehr bloßes Zeichen für Avanciertheit, sondern bewußt eingesetztes Mittel. Seitdem die Technik jedem Theatermacher zur Verfügung steht, hat sich ihre Verwendung ausdifferenziert und ein ästhetisches Repertoire entwickelt, das dem Theater neue Möglichkeiten der Repräsentation und Narration eröffnet. Zu studieren ist mithin die Form des jeweiligen Einsatzes; eine unvollständige Anleitung dazu will dieser Text geben. Er führt die Präsentation der Videokünstler Chris Kondek, Philipp Bußmann und Jan Speckenbach auf der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin im Januar 2004 weiter. 
 

CLOSED CIRCUIT

In Großbritannien ist die Video-Überwachung des öffentlichen Raumes bekanntlich flächendeckend. Die walisischen Theatermacher Mike Brookes und Mike Pearson spielten darauf an, als sie am Mittag und am Abend desselben Tages die behinderte Perlformerin Lyn durch die Straßen von Cardiff zum Chapter Arts Center trugen und die Route jeweils mit Video und Polaroids dokumentierten. Am Abend präsentierte Mike Pearson die Dokumente der Aktion dem Publikum von „Carrying Lyn“ (2001) im Arts Center in einer Mischung aus „historischen“ Tagesbildern und aktuellen Bildern vom Abend, die ein Kurier mit 15minütiger Verzögerung aus der Stadt in den Saal brachte. Mit der Ankunft der Performer fielen Dokumentation und Realität, Erzählzeit und erzählte Zeit ineins. Die vortechnische, unmittelbare Ursituation des Theaters war wieder hergestellt, die beobachtenden Zuschauer waren wieder von den Akteuren Beobachtete.

 

DELAY

In seiner Börsenhandels-Performance „Dead Cat Bounce“ (Hebbel am Ufer 2004) hat Chris Kondek mit dem Delay-Effekt experimentiert. Ein Live-Bild wird im Computer zwischengespeichert und wenige, aber entscheidende Sekunden später wiedergegeben - so wie im elektronischen Börsenhandel zwischen professioneller „Real Time“ und Internet-„Echtzeit“ für die Normalverbraucher kostbare Zehntelsekunden liegen. Voraussetzung für den Zuschauer ist, die Bildproduktion (live) und die nicht mehr ganz simultane Bildwiedergabe parallel verfolgen zu können. Dann kann sich ein Darsteller mit seiner jüngsten Vergangenheit rückkoppeln oder die eigene Zukunft voraussagen. Philipp Bußmann arbeitet in „Decreation" (Regie William Forsythe, Ballett Frankfurt 2003) mit der gleichen Technik, indem er eine live aufgenommene Tanzbewegung im Computer zwischenspeichert und mehr und mehr verlangsamt abspielt.

 

INVISIBLE MODE

Chris Kondek und Philipp Bußmann wissen zu berichten, daß Elizabeth LeCompte, die Regisseurin der Wooster Group, seit „Brace Up!“ (1991) Monitore auf der Bühne einsetzt, die nur für die Darsteller sichtbar sind. Die auf ihnen laufenden Filmausschnitte (meist B-Movies oder Fernsehserien) dienen als „Bewegungsmatrizen“ (Bußmann) oder choreographische Souffleusen: Nahaufnahmen bringen die Darsteller an die Rampe, Schwenks nach links oder rechts, Totalen schicken sie zurück.

 

LUMINANCE KEY

Die Videotechnik kann Berge versetzen: Live aufgenommene Darsteller können in vorproduzierte Hintergründe gestanzt werden. Chris Kondek ermöglichte es den Schauspielern von „Bei Banküberfällen wird mit wahrer Liebe gehandelt“ (Regie Stefan Pucher, Schauspielhaus Zürich 2003), sich auf künstliche Sofas zu setzen. Philipp Bußmann kombiniert in „House / Lights“ (Wooster Group 1999) Körperteile – durch Wischblenden verbindet er die Übergänge.

 

MEMORY STICK

Die italienische Socìetas Raffaello Sanzio arbeitet seit 2002 an ihrer „Tragedia Endogonidia“ und entwickelt sie an jedem ihrer 10 Spielorte zwischen Avignon und Berlin (Hebbel-Theater) weiter. Im Anschluß an die etwa einstündige Aufführung sieht das Publikum im gleichen Saal als Videoprojektion einen Zusammenschnitt der bisherigen Versionen, die eine verwandte Handlung mit anderen Mitteln erzählt haben. Erst durch diesen (fakultativen) zweiten Teil des Abends wird das Gesamtprojekt als Reihe von Metamorphosen erfahrbar. Die aktuelle Aufführung hat sich in Geschichte verwandelt; auf das noch frische Erinnerungsbild wird ihre Vorgeschichte projiziert. Die Tiefendimension der Bühne hat sich in die Dimension der Zeit transformiert.

 

NIGHT SHOT

Eine Videokamera kann für den Zuschauer Unsichtbares Sichtbar machen: nicht nur hinter vierten Wänden („Erniedrigte und Beleidigte“ und Folgende, Regie Frank Castorf, Video Jan Speckenbach; „Kammer Kammer“, Video Philipp Bußmann), sondern auch an lichtlosen Orten. Videokameras können im Gegensatz zum menschlichen Auge auch den Infrarotbereich wahrnehmen. In „Frau unter Einfluß“ läßt Chris Kondek die Kamera unter das Kleid einer Darstellerin schlüpfen. Die deutsch-britische Performancegruppe Gob Squad hat auf die „night shot“ Funktion der Kameras ihre jüngste Produktion (Prater der Volksbühne 2003) aufgebaut. Eine Stunde, eine Kassettenlänge vor Vorstellungsbeginn, verlassen vier Darsteller mit vier Kameras den Aufführungsort und filmen sich selbst bei ihrem Weg durch die nächtliche Stadt zurück zum Theater. Dort werden sie von den vorher instruierten Zuschauern begrüßt, die sich dann einen vierfach parallel projizierten ungeschnittenen „Film“ anschauen. Für dieses „performance polaroid“ regelt ein Toningenieur die Geräuschpegel – und damit die Aufmerksamkeit, bis die Zuschauer sich selbst bei der nun eine Stunde zurückliegenden Begrüßung der Darsteller sehen. Theaterzeit und Realzeit waren um eine Stunde verschoben; mit dem Auftritt der Darsteller zum Schlußapplaus fallen sie wieder zusammen.

 

OLD MOVIE

Naturgemäß erscheint jedes bewegte Bild dem Zuschauer im Kontext seiner Sehgewohnheiten als Fernsehen (wenn erkennbar live produziert) oder als Film (wenn vorproduziert). Mit Video ist nicht nur die Live-Produktion von Bildern möglich geworden, sondern die Filmgeschichte steht als Bildersteinbruch zur Verfügung. Analog zu Eisensteins „Montage der Attraktionen“ kann der Videokünstler zum realen Bühnengeschehen dialektische Bilder montieren; das Theaterbild durch filmische Verweise vertiefen. Jan Speckenbach spielt in einer Gartenszene von „Forever Young“ (Volksbühne Berlin 2003) einen Ausschnitt aus „Apocalypse Now“ zu. Chris Kondek nutzt sein Filmarchiv noch abstrakter, wenn er in seinem Börsentheater „Dead Cat Bounce“ ein immer weiter galoppierendes Pferd als Endlos-Schleife zuspielt, während die Darsteller darauf warten, daß die Börsenkurse zu laufen beginnen.

 

PLAY BACK

Vorproduzierte Film- oder Videozuspielungen haben auf dem Theater häufig eine illusionistische Wirkung; ein Live-Video wird vom Publikum dagegen als dokumentarisches Mittel akzeptiert – als hinter die Kulissen erweiterte Perspektive. Mit dieser Perspektive kann die Videotechnik wiederum spielen.

In „Frau unter Einfluß“ (Regie: René Pollesch, Prater der Volksbühne Berlin 2001) kombinierte Chris Kondek Live-Bilder von Sophie Rois, die in ein für die Zuschauer nicht einsehbares Blockhaus abgegangen war, mit vorproduzierten Bildern eines um den Tisch gejagten Kindes bzw. von spaghettiessenden Bühnenarbeitern. Für den Zuschauer rannte Sophie Rois in Schnitt und Gegenschnitt ihrem Kind hinterher bzw. tischte ihren Männern ein Essen auf – alle schienen gleichermaßen das Blockhaus zu bevölkern.

In „M.T.M.“ (1994) errichtete die katalanischen Performancetruppe La Fura dels Baus eine Mauer aus Pappkisten quer durch das stehende Publikum. Die derart getrennten Zuschauergruppen bekamen zum Schein eine Live-Übertragung der jeweils anderen Hälfte zu sehen, auf der die Darsteller einander durch die Menge jagten und verprügelten. Jede Hälfte fühlte sich die akustischen Reaktionen jenseits der Mauer bestätigt; derart rückgekoppelt steigerte sich die Illusion zur Evidenz - bis die Mauer fiel.

 

SLOW MOTION

„Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner schaut es zurück“ – der auratisierende Blick eines Karl Kraus läßt sich im Zeitalter der Videoreproduktion von der Literatur auf die Dinge lenken. In „Visitors Only“ (Regie Meg Stuart, Schauspielhaus Zürich 2003) läßt Chris Kondek eine Tasse in Zeit, Größe und Ton verzerrt auf einer Unterlage kreisen. Hier ist für die Wahrnehmung unerheblich, ob diese surreale Bildmetapher zugespielt oder tatsächlich vom Bildmischer vor dem Orchestergraben live produziert wird.

 

STEADYSHOT

In Frank Castorfs Inszenierungen sind Jan Speckenbach und die weiteren Kameraleute mehr als kostümierte Techniker, doch führen sie den Dialog mit den Schauspielern nicht auf der selben Ebene, der Sprache, sondern mit der Kamera. Philipp Bußmann überläßt in „Kammer Kammer“ (Regie William Forsythe, Ballett Frankfurt 2001) und „Decreation“ den Forsythe-Tänzern selbst die Kamera. Die Darsteller scheinen ihr Bild in der Hand zu haben; die Bildproduktion wird in die szenische Aktion eingebunden. Damit kehren sich die Kräfteverhältnisse der Attraktion um: Weil seine Produktion sichtbar wird, nimmt das einäugige Kamera-Bild keine objektivierende und den Blick fesselnde Zentralperspektive mehr ein. „Die Kunst besteht darin, das Video nicht zum alleinigen Focus zu machen“, sagt Chris Kondek.

 

STROBE

Noch befindet sich die Videotechnik in einer stürmischen Entwicklung, mittlerweile weniger im Bereich der Kameras als der Nachbearbeitung der Bilder. Können sich zu Beginn eines Entwicklungsschrittes jeweils nur große Fernsehanstalten einen Trick leisten, so wird die Technik bald auch für weniger finanzkräftige Anwender wie die Theater verfügbar. Der Bildmischer „WJMX50“ von Panasonic markierte Mitte der 90er Jahre einen solchen Sprung in der Entwicklung – und damit der Ästhetik, denn die Videokünstler greifen neue Mittel gern sofort auf. Zur Ausstattung des MX50 gehörte Jahre der Stroboskop-Effekt, der den Eindruck erweckt, eine Szene sei nicht mit 25 Bildern pro Sekunde sondern wie mit einer alten Kamera mit 12 oder 6 Bildern aufgenommen. Nur jedes vierte Bild wird projiziert, allerdings vier mal hintereinander. Dadurch werden Bewegungen ruckartig verfremdet – das Video bekommt einen Kunstcharakter jenseits der grellen und flachen Fernsehästhetik. Für die Wooster Group ist dieser Effekt ein Markenzeichen, bislang taucht er in jeder ihrer Produktionen seit „The Hairy Ape“ (Wooster Group, 1995) auf, ob betreut von Chris Kondek oder Philip Bußmann. Dieser entwickelte den Effekt in seiner Arbeit für „Decreation“ weiter, indem er ihn mit live gesteuerten und damit variablen Slow-Motion Effekten und Samplings kombinierte.

 

SUPERIMPOSING

Mit „Luminance Key“ oder „Blue Screen“ wird ein Bild in ein anderes hineingestanzt. Bilder lassen sich aber auch, analog einer fotografischen Doppelbelichtung, übereinanderlegen. Chris Kondek nutzt diese Technik in seiner ersten Regiearbeit „Dead Cat Bounce“ raffiniert aus, indem er zwei aus der gleichen Position aufgenommene Einstellungen von schlittenfahrenden Kindern übereinanderblendet. Der weiße Schneehintergrund läßt eine paßgenaue Überblendung zu, die dem Zuschauer auch in der Zeitlupe nicht also solche auffällt. Seine Magie gewinnt der Trick, weil eine Bildschicht dabei rückwärts läuft, so daß auf- und absteigende Schlitten aneinander vorbeigleiten.

 

VIDEO PUPPET

In „Dead Cat Bounce“ läßt Chris Kondek die junge Lauren Bacall mitspielen, genauer: eine im Computer in Einzelbilder zerlegte kurze Nahaufnahme. Eine Darstellerin kann ihren Text optisch synchronisieren, indem sie mittels einer Maus Bacalls Mund Bild für Bild öffnet und schließt, also zum Sprechen bringt. In „Visitors Only“ läßt Kondek eine vorher aufgenommene Tänzerin mit sich selbst tanzen – auch hier genügen wenige, von Hand ansteuerbare Einzelbilder, um eine einmal gefilmte Sequenz zum immer leicht verschieden ablaufenden Leben zu erwecken.